5 Fragen an Thomas Debertshäuser und Dr. Linda Gräßel

19.02.2025. Mit dem Kerndatensatz haben die universitätsmedizinischen Standorte definiert, welche Datensätze die Datenintegrationszentren der MII für alle stationären Patientendaten mindestens vorhalten sollen. In diesen Modulen werden Datenumfang und Standardisierung der medizinischen Inhalte festgelegt. Kürzlich ist das Erweiterungsmodul Onkologie veröffentlicht worden. Darüber haben wir mit Thomas Debertshäuser vom Berlin Institute of Health in der Charité (BIH), verantwortlich für die technische Umsetzung, und Dr. Linda Gräßel vom Universitätsklinikum Freiburg, zuständig für die klinische Fachvertretung im Kerndatensatzteam, gesprochen.

Welche Inhalte umfasst das Modul Onkologie des Kerndatensatzes? 

Thomas Debertshäuser: Das Modul Onkologie erlaubt es, Daten aus der onkologischen Behandlung in die Datenintegrationszentren zu übernehmen und so standardisiert zu nutzen. Grundlage dafür ist der gemeinsame onkologische Basisdatensatz (oBDS) in der aktuellen Fassung von 2021. Das Kerndatensatzmodul umfasst die ausführliche Beschreibung der Primärdiagnose und Histologie, Angaben zu durchgeführten Therapien (samt Komplikationen und Nebenwirkungen) sowie krebsspezifischen Parametern wie der TNM-Klassifikation, dem Verlaufs-Staging und Tumorkonferenzempfehlungen. Diese können durch die Datenintegrationszentren aus den bereits bestehenden, gut gepflegten Tumordokumentationssystemen extrahiert und der Forschung zur Verfügung gestellt werden.  

Warum ist es wichtig, dass der Kerndatensatz um dieses Modul erweitert wurde? Sind weitere Ausbaustufen des Moduls geplant? 

Thomas Debertshäuser: Das Modul bietet die Möglichkeit, über das Forschungsdatenportal für Gesundheit (FDPG) in verteilten Analysen nach neuen, onkologischen Datenelementen zu suchen. Bisher war eine Suche nach Krebspatientinnen und -patienten lediglich mit bestimmten Diagnosecodes, etwa über ICD-10 oder ICD-O, möglich. Das Onkologie-Modul erweitert das jetzt aber gezielt um krebsspezifische Datenpunkte, wie der TNM-Klassifikation oder der Intention einer Chemotherapie, die bisher nicht durchsuchbar waren. 
Im ersten Quartal 2025 liegt unser Fokus in der Unterstützung der Datenintegrationszentren bei der Implementierung vor Ort. Für die kommende Modulversion 2026 ist unter anderem die Integration der organspezifischen Module für Brust-, Prostata-, Darm und Hautkrebs sowie die spezifische Ausgestaltung von krebsspezifischen Klassifikationen geplant, wie die bei gynäkologischen Tumoren gebräuchlichen FIGO-Stages und in der Hämatologie genutzten WHO-Einteilungen für Leukämien und Lymphome. Weiterhin ist gerade das Modul „Molekulares Tumorboard“ (MTB) in Entwicklung, das auf dem Onkologie-Modul aufbaut. Natürlich hören wir auch auf das Feedback der Community und verfolgen alle Aktivitäten gespannt.  

Wie wurde das Modul Onkologie erstellt, wer war daran beteiligt? 

Thomas Debertshäuser: Die Onkologie wurde bereits relativ früh als relevantes, aber nicht verpflichtendes Modul identifiziert. Es gab bereits seit 2019 erste Überlegungen, wie das am besten zu bewerkstelligen sei. Mit der Einigung auf den Krebsregister-basierten Datensatz oBDS als Ausgangspunkt war ein wichtiger Schritt getan. Ein Problem war, dass eine Integration mit anderen Modulen (Diagnose, Prozedur und Medikation) zwingend erforderlich war, diese aber erst in den letzten Jahren reif und stabil genug waren. Der Großteil der technischen Profilierung wurde Anfang 2024 durchgeführt, hier waren meine Kollegen und ich vom BIH federführend und wurden von anderen Standorten der MII unterstützt. Im April und Mai 2024 fand dann die Kommentierungsphase statt, in der wir alle relevanten Stakeholder, wie die Krebsregister und das Deutsche Konsortium für Translationale Krebsforschung (DKTK), um Feedback gebeten haben. Entscheidend war hier auch der enge Austausch mit dem BMBF-geförderten standortübergreifenden Projekt PM4Onco, wo insbesondere auch am Standort Freiburg parallel am neuen Kerndatensatz Molekulares Tumorboard „MTB“ gearbeitet wurde. Hier war es hilfreich, die beteiligten Organisationen frühzeitig zu informieren. Insgesamt gab es über 100 Kommentare, was für eine hohe Relevanz der Thematik spricht und uns daher sehr gefreut hat.  

Dr. Gräßel, für welche Forschungsfragen kann das Modul Onkologie genutzt werden? 

Dr. Linda Gräßel: Das Modul ist für alle Forschungsfragen nützlich, die klinische Daten onkologischer Patientinnen und Patienten erfordern. Ein Anwendungsszenario sind Real-World-Analysen, etwa zur Untersuchung der Effektivität von Behandlungen außerhalb von Studien. Da klinische Studien oft unter anderen Bedingungen als in der Versorgungsrealität stattfinden, können Unterschiede in Toxizität, Dosisreduktionen und somit Medikamentenwirksamkeit auftreten. Außerdem haben klinische Studien häufig strenge und selektive Einschlusskriterien, sodass manche Gruppen von Betroffenen ausgeschlossen sind. Solche Aspekte lassen sich nur mit einheitlichen und vollständigen klinischen Datensätzen wissenschaftlich auswerten – besonders relevant bei der Analyse über mehrere Behandlungszentren hinweg. Hier wird der Kerndatensatz Onkologie eine wichtige Rolle einnehmen und solche und weitere Analysen im größeren Kontext ermöglichen.
Auch für die Grundlagenforschung ist der Kerndatensatz entscheidend. Stellen Sie sich vor, Sie wollen eine Studie zu einer bestimmten Erkrankung machen und bekommen von beteiligten Zentren Biomaterialien zur Verfügung gestellt. Der Datensatz ermöglicht die Zuordnung von Biomaterialien zu klinischen Verläufen – etwa zur Abklärung, ob eine Probe aus der Erstdiagnose stammt oder welche Therapien bereits verabreicht wurden. All dies geschieht selbstverständlich unter Berücksichtigung ethischer und datenschutzrechtlicher Vorgaben der jeweiligen Projekte. 

Welchen Mehrwert hat der Kerndatensatz der MII für die medizinische Forschung?

Dr. Linda Gräßel: Der Kerndatensatz bietet durch einheitliche Standards und Interoperabilität eine breite Anwendbarkeit. Dies ermöglicht standortübergreifende Forschungsprojekte, besonders in der personalisierten Medizin, wo oft nur wenige Patientinnen und Patienten mit identischen Merkmalen an einem Zentrum behandelt werden. Eine multizentrische Analyse mit harmonisierten klinischen Daten erhöht die Aussagekraft von Studien. Ebenso sind standardisierte Datensätze eine wichtige Voraussetzung für den Einsatz Künstlicher Intelligenz, die künftig eine größere Rolle in der medizinischen Forschung und irgendwann sicher auch in der klinischen Entscheidungsunterstützung, sogenannten Decision Support Systems, spielen wird. Dieses wird unter anderem durch PM4Onco vorangetrieben. Daher ist die Bereitstellung der klinischen Daten über die Erweiterungsmodule Onkologie und das zukünftige MTB von großer Bedeutung und wird durch diesen Verbund aktiv unterstützt.

  
 Weitere Informationen: 

Zum Kerndatensatzmodul Onkologie