Daten nachhaltig verfügbar machen und so neues Wissen erschließen: Professorin Dagmar Waltemath, Medizininformatikerin und Leiterin des Datenintegrationszentrums der Universitätsmedizin Greifswald, betreibt medizinische Forschung mit „Aha“-Momenten.
Sammeln, sortieren, zusammenführen und analysieren – das spielt in der Forschung von Dagmar Waltemath eine zentrale Rolle. Dabei geht es um Erkenntnisse, aus denen neues Wissen entstehen soll, und es geht vor allem um Daten: Daten aus der medizinischen Forschung und der Gesundheitsversorgung, die einen wahren Schatz an Informationen bergen. Waltemath ist Professorin für Medizininformatik an der Universitätsmedizin Greifswald und Leiterin des dortigen Datenintegrationszentrums (DIZ); ihre Aufgabe ist es, Methoden und Werkzeuge zu entwickeln, die Daten aus unterschiedlichsten Quellen möglichst effizient und nachhaltig für die Forschung nutzbar machen.
Daten helfen heilen – wenn sie denn die gleiche Sprache sprechen
Jeden Tag werden unzählige Daten in Kliniken, Arztpraxen und in der Forschung erhoben – vom Blutwert im Labor bis hin zur bildgebenden Diagnostik. Mithilfe intelligenter IT-Lösungen lassen sich in diesen Daten verborgene Muster aufspüren, und das wiederum kann helfen, Krankheiten früher zu erkennen oder Therapien auf einzelne Patientinnen und Patienten passgenau zuzuschneiden. Aus diesem Schatz an Daten können sich Forschende allerdings nur dann „bedienen“, wenn die Datenformate und IT-Systeme zusammenpassen – wenn sozusagen die gleiche Sprache gesprochen und über die gleichen Schnittstellen miteinander kommuniziert wird.
Gern vergleicht Dagmar Waltemath ihre Arbeit mit einer unsortierten Bibliothek, die in einzelnen Büchern zwar viel gebundenes Wissen enthält, das aber unauffindbar bliebe, wenn die Bücher nicht nach Themengebieten oder Autoren geordnet werden. „Genau das machen wir auf digitaler Ebene“, beschreibt die 43-Jährige, „und wir haben den Vorteil, dass wir unsere ,Bücher‘ viel schneller umsortieren können, heute nach Autoren, morgen nach Themengebieten und übermorgen vielleicht nach der Farbe der Buchrücken – je nachdem, wonach gerade gesucht wird“.
Von der Schwarmintelligenz in Forschung und Versorgung
Auf die medizinische Forschung bezogen verbirgt sich hinter diesem simplen Bild eine kleine Revolution: „Wir bringen Informationen aus den unterschiedlichsten Abteilungen und Kliniken der Universitätsmedizin Greifswald zusammen und der Computer ist in der Lage, daraus neues Wissen zu generieren“, bestätigt Waltemath, „Wissen, das sich eine einzelne Person eben niemals erschließen könnte“.
Diese „Schwarmintelligenz“ in Forschung und Gesundheitsversorgung zu nutzen, ist u. a. Ziel der vom Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) geförderten Medizininformatik-Initiative, kurz MII. Im Zuge der MII wurden an allen Standorten der deutschen Universitätsmedizin Datenintegrationszentren aufgebaut (DIZ). Wie in Greifswald schaffen sie die technischen und organisatorischen Voraussetzungen, um medizinische Daten zunächst innerhalb eines Universitätsklinikums – also zum Beispiel aus der Intensivmedizin und der Labormedizin – zusammenzuführen und sie dann für lokale Forschungsfragen oder zur Optimierung der Gesundheitsversorgung bereitzustellen. Zudem sind die einzelnen DIZ über sichere IT-Infrastrukturen miteinander vernetzt, sodass Daten über das bundesweite Forschungsdatenportal für Gesundheit (FDPG) auch standortübergreifend für multizentrische Kohortenstudien und Analysen nach einheitlichen Regeln und Standards genutzt werden können.
EyeMatics: Blaupause für moderne klinische Forschung
Diese Strukturen aufzubauen und einheitliche Prozesse zu entwickeln, braucht Zeit – und ein Umdenken in der Wissenschaftscommunity, die „der Kultur des Datenteilens lange zurückhaltend gegenüberstand“, weiß die gebürtige Mecklenburgerin. In den Köpfen der Bevölkerung habe dieses Umdenken bereits stattgefunden. „Mit Blick auf mögliche Fortschritte der Wissenschaft ist die große Mehrheit der Patientinnen und Patienten mit der Weitergabe ihrer Gesundheitsdaten an die Forschung einverstanden“, bezieht sich Waltemath auf eine vom Institut für Community Medicine durchgeführte Studie.
Wie lohnenswert das sein kann, zeigt ein konkretes Beispiel aus der MII, das Forschungsprojekt EyeMatics. Hier haben sich Expertinnen und Experten in der Augenheilkunde und Datenwissenschaftlerinnen und -wissenschaftler an sechs Standorten in Deutschland zusammengefunden, um bessere Behandlungsmöglichkeiten zum Beispiel zur altersbedingten Makuladegeneration und Netzhautschädigungen im Zusammenhang mit Diabetes zu entwickeln. Die über die MII angestoßene Zusammenarbeit in der Augenheilkunde ist für Waltemath „nicht nur ein wichtiges Impulsprojekt, sondern auch eine Art Blaupause, wie die deutschlandweite Forschung im klinischen Sektor aussehen kann und heute auch aussehen muss“.
Über das Schachspiel zur Bioinformatik
Der praktische Anwendungsbezug und ein „agiles Miteinander“ der Forschung ist Dagmar Waltemath sehr wichtig – auch und gerade in der Informatik, zu der sie über eine private Leidenschaft fand. Als passionierte Schachspielerin traf sie schon als Jugendliche auf eine Szene, zu der viele Mathematiker und Informatiker gehörten. In Kombination mit Anglistik begann Waltemath 1999 ein Studium der Informatik in Rostock, spezialisierte sich auf den Aufbau und die Programmierung von Datenbanken. Austausch und Vernetzung wurden schnell zu prägenden Konstanten ihrer akademischen Karriere: „Mir war früh klar, dass ich nicht allein vor meinem Computer sitzen möchte“, sagt die engagierte Forscherin, „sondern, dass ich die Dinge, die die Informatik kann, auch in andere Bereiche hineintragen möchte – zunächst in die biowissenschaftliche Forschung und jetzt in die Medizin“.
Studien- und Forschungsaufenthalte führten die Mutter von drei Söhnen nach Schweden, Norwegen, Thailand und England, brachten sie in Kontakt mit renommierten Forschenden und Instituten wie dem „European Bioinformatics Institute“ (EMBL-EBI). Viele ungeplante Begegnungen und auch Zufälle halfen ihr, an dem für sie richtigen Platz anzukommen. Nach der in Schweden absolvierten Masterarbeit entschied sie sich gegen die Industrie und für die Leitung einer wissenschaftlichen Nachwuchsgruppe am Lehrstuhl für Systembiologie und Bioinformatik an der Universität Rostock.
„Hier kam eins zum andern“, lacht die 43-Jährige, „eigentlich war es so, dass die Forschung mich gefunden hat und nicht etwa umgekehrt“. Was man heute als FAIR-Prinzipien in der Forschung kennt – der Grundsatz also, dass Forschungsdaten „Findable“ (auffindbar), „Accessible“ (zugänglich), „Interoperable“ (interoperabel) und „Reusable“ (wiederverwendbar) sein müssen – sei schon damals ein wichtiger Antrieb für sie gewesen. Und der schöne Nebeneffekt des Arbeitsplatzes an der Ostsee: Aufgewachsen an der Mecklenburgischen Seenplatte fühlt Waltemath sich noch immer dort am wohlsten, wo Wasser in der Nähe ist.
Interdisziplinäre Forschung mit „Aha“-Momenten
In Bewegung und offen in alle Richtungen sein, auf der Suche nach Synergien, wissenschaftliche Neugier stillen – das lässt die Greifswalder Professorin immer wieder über ihre eigentliche Disziplin hinausschauen. Und eben das Prinzip der Nachhaltigkeit, das sich vom privaten Engagement bis in den beruflichen Alltag erstreckt. Aktuell ist Waltemath häufig am Interdisziplinären Zentrum für Geschlechterforschung der Universität Greifswald zu finden, einer Einrichtung der Philosophischen Fakultät, die fakultäts- und fächerübergreifend arbeitet. Im vom BMBF geförderten Forschungsprojekt „Inklusive Exzellenz in der Medizin“ geht es darum, den Geschlechteraspekt stärker ins Bewusstsein der Forschung zu rücken und für Waltemath um die Modellierung von Genderdaten.
„Vielen ist nicht klar, welch wichtige Rolle das Geschlecht in der Behandlung von Krankheiten und bei der Therapie-Entscheidung spielt“, sagt Waltemath. An klinischen Studien beispielsweise nahmen früher vor allem männliche Probanden teil, obwohl die geprüften Medikamente bei Frauen ganz anders wirken können als bei Männern – und das ist nur einer von vielen Unterschieden, die vor Jahrzehnten kaum bekannt waren. Heute rückt das Wissen über die Rolle des Geschlechts in der Medizin immer stärker in den Fokus, und nachhaltige Erfolge erzielt Forschung dann, wenn sie solche Merkmale und persönliche Besonderheiten berücksichtigt. Die in den heute vorliegenden, digitalen Daten feststellbaren Unterschiede zwischen den Geschlechtern wissenschaftlich zu belegen, sie in Modellierungen einfließen zu lassen und so für neue Therapieansätze nutzbar machen zu können, „das macht meine Arbeit sehr konkret, greifbar und sinnvoll – und lässt mich immer wieder echte Aha-Momente erleben“, begeistert sich Waltemath.
Hintergrund:
Die Gesundheitsversorgung der Menschen verbessern und die datenbasierte Gesundheitsforschung stärken – darum geht es bei der Medizininformatik-Initiative (MII) des Bundesministeriums für Bildung und Forschung (BMBF). Die MII vereint zahlreiche Akteure aus der medizinischen Forschung und der Gesundheitsversorgung. Alle 36 Universitätskliniken in Deutschland arbeiten dabei mit Forschungseinrichtungen, Unternehmen und auch nicht-universitären Krankenhäusern zusammen. Gemeinsam mit dem Netzwerk Universitätsmedizin (NUM) hat die MII medizinische Datenintegrationszentren (DIZ) an allen Standorten der deutschen Universitätsmedizin etabliert. Professorin Dagmar Waltemath leitet das DIZ an der Universitätsmedizin Greifswald und arbeitet u. a. dem Verbundprojekt EyeMatics zu. Die im Projekt EyeMatics geschaffene Datengrundlage wird für neue, maßgeschneiderte klinische Leitlinien in der Augenheilkunde von entscheidender Bedeutung sein.
Quelle: gesundheitsforschung-bmbf.de
Das Interview wurde vom DLR Projektträger im Auftrag des BMBF geführt.