Dortmund, 13.09.2019. „Die Medizininformatik-Initiative (MII) hat in vergleichsweise kurzer Zeit wesentliche Voraussetzungen geschaffen, um Routinedaten aus der Patientenversorgung standortübergreifend digital zu vernetzen – für bessere Forschungsmöglichkeiten und gezieltere Therapien“, sagte Sebastian C. Semler, Geschäftsführer der Technologie- und Methodenplattform für die vernetzte medizinische Forschung (TMF) und Leiter der Koordinationsstelle der MII bei der 3. Jahresversammlung der Initiative, die am 11. und 12. September unmittelbar im Anschluss an die Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für Medizinische Informatik, Biometrie und Epidemiologie (GMDS) in Dortmund stattfand.
Rund 150 Medizinerinnen und Mediziner, Informatikerinnen und Informatiker sowie Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler weiterer Fachrichtungen tauschten sich dort über erreichte Meilensteine und anstehende Herausforderungen der MII aus. Das Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) fördert das Projekt zunächst bis 2021 mit rund 160 Millionen Euro.
„Die Beteiligten der Medizininformatik-Initiative leisten mit großer Fachkenntnis die Arbeit, die die Digitalisierung in der Medizin konkret voranbringt“, sagte Ministerialrätin Eva Nourney, Referatsleiterin im BMBF in ihrem Grußwort. Wichtig sei, die MII auch im Weiteren eng mit anderen nationalen Digitalisierungsvorhaben wie der KI-Strategie der Bundesregierung oder der NFDI zu verzahnen.
Die Ergebnisse der Initiative des letzten Jahres fassten Semler und die Vertreter der Konsortien zusammen: Alle deutschen Universitätskliniken haben sich inzwischen in der MII zusammengeschlossen und bereits erste Datenintegrationszentren (DIZ) eingerichtet. Darin werden Versorgungs- und Forschungsdaten dezentral am jeweiligen Uniklinikstandort zusammengeführt, standardisiert und für den standortübergreifenden Austausch aufbereitet. Zudem wurden ein bundeseinheitlicher Kerndatensatz sowie gemeinsame international anerkannte Standards für den Datenaustausch definiert und Prozesse für die Datennutzung entwickelt. Außerdem wurde die bundesweit harmonisierte Patienteneinwilligung („Broad Consent“) mit dem Arbeitskreis Wissenschaft der Landesdatenschutzbehörden und mit der Arbeitsgruppe Biobanken des Arbeitskreises der Ethikkommissionen abgestimmt. Für Forschungsdatenanfragen wurde eine Zentrale Antrags- und Registerstelle (ZARS) als One-Stop-Agency für Forschende auf den Weg gebracht. Auch den Dialog über die Ausgestaltung der Patientenpartizipation hat die MII bereits eröffnet.
Im Rahmen einer sogenannten Demonstratorstudie konnte gezeigt werden, dass das in der Medizininformatik-Initiative vorgesehene technische und organisatorische Konzept der Datennutzung grundsätzlich funktioniert und die Daten qualitativ geeignet sind, Erkenntnisse zu generieren. In der Studie wurden Daten von bundesweit 1,8 Millionen Patientinnen und Patienten von mehr als 20 Standorten der MII analysiert. Der Ausbau der DIZ sei zentrale Aufgabe der nächsten Jahre, um die ersten Anwendungsfälle erfolgreich umzusetzen. Eine weitere Herausforderung sei die kontinuierliche Vernetzung mit den Strukturen der Gesundheitsversorgung sowie mit der sich neu bildenden Nationalen Forschungsdateninfrastruktur (NFDI).
„Die FAIR-Prinzipien ‚findable, accessible, interoperable und reusable‘ werden dabei eine wichtige Rolle spielen“, betonte Prof. Dr. Klaus Tochtermann vom ZBW – Leibniz-Informationszentrum Wirtschaft.
Die GO FAIR Initiative plädiere für eine Kultur des Datenteilens, die Ausbildung von Data Stewards mit entsprechenden digitalen Kompetenzen sowie den weiteren Aufbau von Technologien und Infrastrukturen.
Dass auch die Entwicklung medizinischer Leitlinien strukturierter Daten bedarf, erläuterte Dr. Monika Nothacker, Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften (AWMF), die deren IT-Projekt zur Digitalisierung von Leitlinien vorstellte.
Ein wichtiger durch das Konsortium DIFUTURE verfolgter Anwendungsfall ist es, die Therapie der Multiplen Sklerose zu verbessern, wie Dr. Verena Hoffmann, Ludwig-Maximilians-Universität München, erklärte. Da der Krankheitsverlauf schwierig vorherzusehen ist, sollen die Patientinnen und Patienten zum frühestmöglichen Zeitpunkt eine für sie maßgeschneiderte Medikation erhalten. Dazu werden mathematische Modelle entwickelt, die den Erfolg verschiedener Behandlungsoptionen individuell vorhersagen können.
Diese Analysen können Ärztinnen und Ärzten helfen, die vielversprechendste Therapie zu ermitteln. Unter anderem Klinische Daten, Bildgebungsdaten und genetische Daten werden hierzu standortübergreifend harmonisiert erfasst.
Durch die auf dieser Grundlage automatisiert erstellten Arztbriefe profitieren Ärztinnen und Ärzte bereits heute ganz konkret von digitalen Unterstützungsangeboten, die im Rahmen der MII entwickelt werden.
Im Use Case Kardiologie will das Konsortium HiGHmed die Erkennung und Behandlung von Risikopatienten mit Herz-Kreislauf-Erkrankungen verbessern. Beispielsweise sollen Daten über Langzeitverläufe von Herzerkrankungen und bisherige Behandlungen zusammengeführt und ausgewertet werden, erläuterte Prof. Dr. Otto Rienhoff, Universitätsmedizin Göttingen. Die Analyse dieser Daten soll den Ärztinnen und Ärzten helfen, Risikopatienten künftig besser zu erkennen. Wenn das gelingt, können rechtzeitig Maßnahmen ergriffen werden, um krisenhaften Verschlechterungen des Gesundheitszustands gezielt entgegenzuwirken.
Prof. Dr. Dr. Melanie Börries, Albert-Ludwigs-Universität Freiburg, präsentierte einen Use Case des MIRACUM-Konsortiums, in dem IT-Lösungen die Arbeit von klinischen Tumorboards optimieren sollen. In Tumorboards besprechen interdisziplinäre Teams aus Medizin und Forschung Therapieoptionen und treffen Therapieentscheidungen. Durch eine intelligente Visualisierung der zahlreichen Daten soll ihre Entscheidung unterstützt werden.
Im Use Case ASIC des Konsortiums SMITH sollen klinische Routinedaten der Intensivmedizin kontinuierlich ausgewertet werden, um den Zustand der Patientinnen und Patienten automatisiert zu überwachen und so ein schnelleres diagnostisches und therapeutisches
Eingreifen zu ermöglichen, erläuterte Prof. Dr. Markus Löffler, Universitätsklinikum Leipzig. Dies soll zunächst am Beispiel der Therapie von Patientinnen und Patienten mit akutem Lungenversagen gezeigt werden.
Die Vorstellung der technischen Architektur der DIZ unterstrich anschließend, dass die MII konsequent auf die Anwendung international anerkannte Standards setzt. So soll die Anschlussfähigkeit an die weltweite Wissenschaftscommunity sichergestellt werden. Die erzielten Umsetzungsfortschritte werden wiederrum in die Abstimmungsprozesse der Standardisierungsorganisationen rückgekoppelt.
Sehr beeindruckt von den in den zurückliegenden zwölf Monaten erzielten Fortschritten in der Umsetzung der Interoperabilität zwischen den in der MII zusammengeschlossenen Standorten zeigten sich die Vertreterinnen und Vertreter der im Dialogforum der Medizininformatik-Initiative zusammengeschlossenen Stakeholder aus Wirtschaft, Selbstverwaltung, Patientenvertretungen, Behörden, Standardisierungsorganisationen und Wissenschaft. Angeregt wurde auf der im Rahmen der Jahresversammlung stattgefunden Zusammenkunft, wichtige aktuelle regulatorische Fragestellungen wie etwa die Auswirkungen des novellierten europäischen Medizinprodukterechtes auf die Forschungsvorhaben gemeinsam zu bearbeiten.
Insgesamt sei es gelungen, die Medizininformatik-Initiative als wichtige Impulsgeberin und zentralen Baustein der Digitalisierung des deutschen Gesundheitssystems zu positionieren, resümierten die Teilnehmerinnen und Teilnehmer der Jahresversammlung in ihrer Halbzeitbilanz der laufenden Förderphase.