Interview geführt von Marius Leweke, erschienen im Themenboten 09/2020

Forschung und Versorgung in der Medizin digital besser vernetzen: Das ist die zentrale Aufgabe der Medizininformatik-Initiative (MII). Dafür investiert das Bundesministerium für Bildung und Forschung seit 2018 zunächst 160 Millionen Euro. Eines der ersten Projekte beschäftigt sich mit den seltenen Erkrankungen. Über den Stand der Dinge berichten Sebastian C. Semler (Geschäftsführer der TMF – Technologie- und Methodenplattform für die vernetzte medizinische Forschung und Leiter der MII-Koordinationsstelle), Dr. Josef Schepers (Charité Berlin Institute of Health, Projektleitung CORD-MI, dem Anwendungsfall für Seltene Erkrankungen der Medizininformatik-Initiative) und Dr. Christine Mundlos (Lotsin für Ärzte und Therapeuten bei der Allianz Chronischer Seltener Erkrankungen (ACHSE) e. V.).

Was ist die Medizininformatik-Initiative?

Sebastian C. Semler: Die Medizininformatik-Initiative, kurz MII, ist ein Förderprojekt des Bundesministeriums für Bildung und Forschung. 2016 haben wir mit der sogenannten Konzeptphase die Arbeit aufgenommen. Mittlerweile sind wir in der Aufbau- und Vernetzungsphase, die von 2018 bis 2021 läuft.

 Mit welchen Zielen?

Semler: Wir wollen die Digitalisierung im Gesundheitswesen und insbesondere in der medizinischen Forschung zielgerichtet und abgestimmt voranbringen, nachdem mehr als eine Dekade lang in diesem Feld zu wenig geschehen ist. Wesentlicher Aspekt ist dabei, die Daten aus der Patientenversorgung für die Forschung verfügbar zu machen. Das heißt für alle Beteiligten auch, aus dem Silodenken herauszukommen und sich zu vernetzen.

Um welche Daten geht es dabei?

Semler: Um Daten aus allen Bereichen von Diagnose und Therapie aus der Routineversorgung. In der aktuellen Phase werden Daten der 34 Universitätskliniken in Deutschland für die Forschung nutzbar gemacht. In der nächsten Projektphase, wahrscheinlich ab 2022, wollen wir auch außeruniversitäre und nicht-stationäre Institutionen anschließen. Ebenso sollen Daten aus Forschungsprojekten für weitere Forschungsauswertungen besser verfügbar gemacht werden. Die Forschungsergebnisse daraus sollen behandelnden Ärzten in der Fläche zu Gute kommen. Bis dahin haben wir noch eine Reihe von Herausforderungen zu bewältigen.

Welche zum Beispiel?

Semler: Um Daten vernetzt sinnvoll verarbeiten zu können, braucht es bestimmte Standards. In der Diagnostik und Therapie zahlreicher Krankheiten haben wir nicht einmal eine standardisierte Sprache. Deshalb arbeiten wir an einer inhaltlichen, textlichen, syntaktischen und semantischen Standardisierung. Man muss festlegen, wie man Symptome, Diagnosen und Therapien so exakt wie möglich und vor allem einheitlich bezeichnet, um die Daten bundesweit standortübergreifend vernetzen und international vergleichen zu können. Damit bringt man die gemeinsame Forschung voran. Wie das in der Praxis funktioniert, überprüfen wir anhand von Anwendungsfällen, sogenannten „use cases“.

Zu diesen ersten use cases der MII gehört „Collaboration on Rare Diseases“ oder Zusammenarbeit bei Seltenen Erkrankungen, kurz CORD-MI.

Dr. Josef Schepers: Seltene Erkrankungen sind ein passender Anwendungsfall, weil die klinikübergreifende gemeinsame Nutzung von Daten bei diesen „Waisenkindern der Medizin“ besonders wichtig ist.

Haben Sie dafür ein Beispiel?

Schepers: Behandelnde Ärzte haben vor einigen Jahren Eltern eines an Morbus Sandhoff erkrankten Kindes erklärt, dass sie in ihrem ganzen Leben nie ein anderes Kind mit derselben Erkrankung treffen würden. Die Ärzte würden die Krankheit auch nur aus der Literatur kennen. Dem wollen wir begegnen und dafür sorgen, die Daten in unterschiedlichen Datensilos – etwa bei Forschungsinstituten, Krankenkassen oder Kliniken – zu vernetzen und für alle nutzbar zu machen. Aber wie Herr Semler schon sagte, sind Symptome und Therapien oft nicht einheitlich beschrieben. Oder seltene Erkrankungen werden häufigen oder ähnlichen Erkrankungen zugeordnet. Die Eltern des Kindes haben sich übrigens nicht mit der Aussage zufrieden gegeben, sondern andere Morbus Sandhoff-Patienten gefunden und eine Selbsthilfegruppe gegründet.

Semler: Ergänzen möchte ich, dass gerade bei seltenen Erkrankungen die Sammlung von Daten in der Fläche benötigt wird. Je seltener eine Erkrankung, desto vielfältiger sind Art und Anzahl der benötigten Informationen.

Können Sie das präzisieren?

Schepers: Im Zusammenhang mit CORD-MI arbeiten wir zum Beispiel daran, genomische Untersuchungen einer standardisierten Phänotypisierung gegenüberzustellen.

Das heißt, dass über die Beschreibung der Krankheit hinaus erfasst wird, ob ein Patient über bestimmte körperliche Merkmale verfügt?

Schepers: Genau. Manche seltene Erkrankungen gehen damit einher. Wenn wir derartige Dispositionen mit erfassen und in die Typisierung einfließen lassen, wird es für behandelnde Ärzte leichter, exakte Diagnosen zu stellen. Oder undiagnostizierte Fälle überhaupt einzuordnen, was bei seltenen Erkrankungen ein eigenes Thema ist. Unser Ziel ist es, eine höchstmögliche Standardisierung auf möglichst breiter Ebene zu erreichen – vor allem auch in den Hauptsystemen der Versorgung wie den Krankenhausinformationssystemen.

CORD-MI startet mit Mukoviszidose und Phenylketonurie. Warum?

Schepers: Wir stehen mit CORD-MI erst ziemlich am Anfang. Die beiden genannten Erkrankungen sind nur relativ selten und so bekannt, dass sie für die Übung, die gemeinsame Abfrage und den Abgleich von Patientendaten über alle Universitätskrankenhäuser zu initiieren und durchzuführen, besonders geeignet sind.

Beim use case Seltene Erkrankungen arbeitet die MII unter anderem auch mit Expertisen des Versorgungsprojekts TRANSLATE-NAMSE der Zentren für Seltene Erkrankungen und der Patientenorganisation ACHSE zusammen.

Dr. Christine Mundlos: Das Problem bei seltenen Erkrankungen ist ja, dass das Wissen verstreut und oft wenig zugänglich ist. Da kommt man schnell zu der Frage, wie man forscht, wenn man nicht einmal das Krankheitsbild benennen kann. Als ACHSE kennen wir viele Patienten mit seltenen Erkrankungen, die oft sogar größeres Wissen über ihre Krankheiten haben als die meisten Ärzte. Ganz wichtig ist auch, dass sich Patienten, Angehörige und Ärzte, die sich in der ACHSE zusammengeschlossen haben, darüber bewusst sind, wie wichtig es ist, möglichst viele Erkenntnisse standardisiert zusammenzuführen. Wir brauchen Daten für die Diagnose und Therapie, aber auch, um bei den Leistungsträgern eine angemessene Versorgung zu erreichen. Dazu geben viele Patienten mit seltenen Erkrankungen auch gern ihre Daten preis – natürlich anonymisiert.

Damit liefern Sie ein weiteres Stichwort, auf das die MII eine Antwort finden soll: die Datensicherheit. Wie begegnen Sie Bedenken, die gerade im medizinischen Bereich häufig sind?

Schepers: Ein zentraler Ansatz der MII ist es, dass die Patientendaten die beteiligten Universitätskliniken nicht als identifizierbare Einzelangaben verlassen. Bei CORD-MI finden alle Auswertungen zunächst einmal nur in den geschützten Räumen der Kliniken durch die Behandelnden und ihre Mitarbeiter statt. Gemeinsam mit Patientenvertretern, Datenschutzbeauftragten, Ethikkommissionen und Methodenentwicklern prüfen und diskutieren wir, welche weiteren Verfahren sinnvoll, notwendig und angemessen sind.

Wie geht die MII ganz grundsätzlich mit den erhobenen Daten um?

Semler: Rechtsgrundlage ist selbstverständlich die EU-Datenschutzgrundverordnung. Konkret heißt das in unserem Fall, dass jeder Patient in die grundsätzliche Nutzung seiner Daten in pseudonymisierter Form freiwillig einwilligen kann. Über die datenschutzkonforme bundesweit einheitliche Ausgestaltung dieser Patienteneinwilligung haben wir jüngst mit allen Datenschutzbehörden Deutschlands eine Übereinkunft erzielt. Wir haben zudem Use-and-Access-Committees, die jeden Forschungsantrag darauf überprüfen, ob die Daten zweckgemäß genutzt werden. Zu den Kernaufgaben der MII gehört außerdem, dass genau geregelt ist, wer unter welchen Bedingungen Daten abrufen darf.

Wie läuft das Projekt weiter, wenn 2025 die Förderung ausläuft?

Schepers: Wir leisten hier Grundlagenarbeit, an deren Ergebnissen die Universitätskliniken selbst Interesse haben.

Semler: In der MII wollen wir eine nachhaltige standortübergreifende patientennahe Dateninfrastruktur für die medizinische Forschung in Deutschland schaffen, die im medizinischen Versorgungsnetz kontinuierlich weitergeführt und ausgebaut wird. Die Universitätskliniken haben im Rahmen ihrer Möglichkeiten Weiterbetriebszusagen gegeben. Es wäre wichtig, dass dies auch durch geeignete öffentliche Co-Finanzierungsmodelle zum Beispiel im Rahmen des Krankenhauszukunftsgesetzes flankiert wird.

Mundlos: Ich denke, dass wir durch CORD-MI auch wertvolle Basisarbeit leisten, um besser an internationale Netzwerke andocken zu können und das ist ein sehr wichtiger Schritt.